Das Eisenbahnunglück von Rüsselsheim

Zum Gedenken an den zwanzigsten Jahrestag

420 210, © Gregor Schaab
Lange Zeit nach dem verheerenden Unglück von Rüsselsheim fanden sich zufällig auf einem Schrottplatz im Großraum Rhein-Main Trümmerteile der Unglückszüge. Ein Bild von erschreckender Symbolik, das den Betrachter unweigerlich mit den Ereignissen des 2. Februar 1990 konfrontiert.
Foto: Gregor Schaab

Nur wenige Worte sollen an dieser Stelle speziell zu den dramatischen Ereignissen vor zwanzig Jahren gemacht werden. Das Eisenbahnunglück von Rüsselsheim mit 17 Todesopfern und über 100 Verletzten, viele davon mit sehr schweren Verletzungen, ruft zum 20. Jahrestag in Erinnerung wie Fragil unser vermeintlich durchorganisiertes und mehrfach abgesichertes Leben in der Moderne tatsächlich ist. Die Erfahrungen aus den vielzähligen Katastrophen der Technikgeschichte zeigen auf, dass das Schicksal immer wieder ein Schlupfloch in den Sicherheitsphilosophien findet. INDUS-Magnete, Zwangsbremsungen an Halt-zeigenden Signalen, darin eingeplante Durchrutschwege und intensive Schulungen des Fahrpersonals auf solche Betriebssituationen hin galten bis zum Nachmittag des 2. Februars 1990 als ausreichende Maßnahmen einen sicheren Eisenbahnbetrieb gewährleisten zu können. Die immer wieder kehrende, bittere Erkenntnis von der Fehlbarkeit des Menschen, türmte sich an diesem Tag über den Parkplatz neben den Ostkopf des Rüsselsheimer Bahnhofs in der Form sich zwei verkeilender Triebzüge auf, von denen einer dann auf die parkenden Autos niederkrachte. Menschen, Mitmenschen, jeder ein Schicksal, jeder mit einer ganz persönliche Geschichte, wurden aus dem Leben, bzw. aus dem bisherigen Leben jäh gerissen. Es schadet nicht, nach 20 Jahren an dieser Stelle kurz innezuhalten und ihnen zu gedenken.

An einem solchen Tag wird das Erinnern an diesem Geschehen für einen kurzen Augenblick wieder lebendig. Doch klar ist auch, das die Zeit über das Geschehen hinweg gegangen zu sein scheint. Die Sicherungstechnik wurde entsprechend der Unfallanalyse modifiziert. Die PZB 90, mittlerweile Standard im deutschen Eisenbahnverkehrswesen, die Einführung dieser modernisierten Art der Induktiven-Zugsicherung, welche die Fahrbewegungen der Fahrzeuge genauer überwacht als die bis dahin verwendete Konfiguration, sie hat sicherlich schon Menschenleben gerettet. Niemand kann sie zählen, denn das vermiedene Risiko wird nicht mehr erfasst. Erfasst wird dagegen immer noch was trotz PZB 90 geschehen kann. Fast auf den Tag des Unglücks von Rüsselheim, genau 10 Jahre später am 1. Februar 2000, ereignet sich das Zugunglück von Brühl. Trotz Punktueller Zugüberwachung. Trotz vieler klassischer und moderner Maßnahmen.
In der Trauerfeier um die Opfer der Katastrophe von Eschede fiel der Satz, dass wir mit diesem Restrisiko der modernen Technik leben müssten. Ein harter Satz, suggeriert er doch zunächst die Ohnmacht gar nichts dagegen tun zu können. Tatsächlich beschreibt er eine Tatsache, der wir in die Augen sehen müssen. Die Anstrengung alles für die Sicherheit zu tun und ein weiteres Unglück in gleicher Form für die Zukunft auszuschließen, ist eine Pflicht der sich keiner der Verantwortlichen entziehen kann. Richtig ist aber auch die Erkenntnis, dass es keine 100%ige Sicherheit geben wird. Das wir - trotz unserer technischen, geistigen Errungenschaften - immer verletzbar bleiben und das es keinen Grund gibt in Anbetracht vieler technischer Glanzleistungen in Hochmut zu verfallen. Das Gegenteil - die Demut - ist das Gebot der Stunde. Gerade in einer Stunde in der wir den Opfern des Zugunglücks von Rüsselsheim gedenken.



Soweit die Gedanken neben den harten Fakten zu diesem Jahrestag. Wer mehr über die tragischen Ereignisse jenes sonnigen Wintertages im Februar 1990 erfahren möchte, kann sich hier informieren. Ein Bericht in der Allgemeinen Zeitung Mainz wirft sehr detailiert einen Blick zurück auf das schreckliche Geschehen. Die dazugehörige Fotostrecke lässt das Ausmaß nur erahnen:

» Artikel in der Allgemeinen Zeitung Mainz
» Portrait von Günter Steinmüller, THW-Helfer an der Unglücksstelle


Ebenfalls zum Jahrestag erinnert ein weiterer Artikel, der in der Frankfurter Rundschau und beim Rüsselsheimer Echo das Drama beleuchtet:

» Artikel in der Frankfurter Rundschau
» Artikel im Rüsselsheimer Echo


Der Hessische Rundfunk nimmt sich ebenfalls des Themas an. Dazu ist auch ein Radiobeitrag erstellt worden:

» Beitrag des Hessischen Rundfunks



420 210, © dominobahn
Ein Bild aus besseren Tagen - ein Beispiel der Vergänglichkeit: 420 210 ist am 30. Juli 1986 auf der Emser Brücke in Frankfurt/M. als Zug der S4 auf dem Weg zur Konstablerwache.
Foto: dominobahn



Christian Stanski hat heute folgende Gedanken zum Jahrestag zu Papier gebracht.

Rüsselsheim 1990 - der technische Aspekt

Von der technischen Seite betrachtet, bildet Rüsselsheim den tragischen "Höhepunkt" einer ganzen Reihe von Unglücken im Zusammenhang mit der damals verwendeten Indusi der Bauart "I60". Die I60 gilt bis in die heutige Zeit als DIE typische Indusi-Bauform der damaligen Deutschen Bundesbahn. Bei der Baureihe 420/421 kam sie in allen Fahrzeugen von den Vorserien-Zügen bis zur 6. Bauserie, sowie bei der 7. Bauserie (bis 420 424) zur Anwendung. Die Nachfolge-Indusi I60R wurde hingegen in allen Triebzügen der Bauserien 7a und 8 verbaut.

Mit dem Begriff "INDUSI" (induktive Zugsicherung) wird ein Überwachungssystem bezeichnet, das streckenseitig die richtige Reaktion des Lokführers auf bestimmte Signalbegriffe (z.B. Vr0 oder Vr2) kontrolliert. Die Überwachung selbst erfolgt mittels sogenannter "Indusi-Magnete", von denen es drei Ausführungen gibt, nämlich für 500, 1000 und 2000 Hz.

2000 Hz-Magnete gelangen bei haltzeigenden Signalen zur Anwendung, während 1000 Hz-Beeinflussungen beispielsweise an Vorsignalen erfolgen, die entweder haltzeigende oder langsamfahrtzeigende Hauptsignale vorankündigen.

500 Hz-Magnete liegen zwischen Vor- und Hauptsignal und sorgen für eine "schärfere" Reduzierung der Geschwindigkeit vor Erreichen des Hauptsignals. Man unterscheidet bei der Indusi zwischen drei sogenannten "Zugarten": (Untere Zugart ("U"), Mittlere Zugart ("M") und die Obere Zugart ("O")). Jede Zugart hat ihre eigenen Prüfwerte von Geschwindigkeitsprüfung und Zeittoleranz nach erfolgter Beeinflussung. Die Zuordnung in eine bestimmte Zugart erfolgt in Abhängigkeit der vorhandenen "Bremshundertstel", bzw. "Bremsprozente" (ein rechnerischer Wert, der die Bremskraft eines Triebfahrzeugs im Falle einer Zwangsbremsung angibt, errechnet nach der Formel: Bremsgewicht mal hundert, geteilt durch das Fahrzeuggesamtgewicht) und der Bremsstellung (G, P oder R).

Aufgrund unterschiedlicher Ausführungen in Fahrzeug- und Bremgewicht schwanken die Bremshundertstel je nach Bauserie beim ET 420. Im Falle von Rüsselsheim wären es 129 Bremshundertstel pro Kurzzug (dieser Wert gilt für alle Triebzüge von 420 131 bis 420 390). Dieser Wert bleibt, egal ob Kurz-, Voll- oder Langzug, gleich, müssen allerdings aufgrund eines Defekts einzelne oder mehrere Drehgestellbremsen abgesperrt werden, so verringern sich die Bremshundertstel.

Seitdem es sie gibt, fährt die Baureihe 420 regulär in Zugart "O". Die größten Unterschiede zwischen der früheren I60 und der heute verwendeten PZB 90 (wobei die "punktförmige Zugbeeinflussung" entgegen der landläufigen Meinung kein eigenes Zugsicherungssystem - wie z.B. die LZB - als vielmehr eine Indusi-Version, von denen es sehr viele gibt, darstellt) lassen sich am Besten am folgenden Beispiel verdeutlichen.

Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die Möglichkeiten der Indusi weitaus breiter gefächert sind, als ich in diesem Text darstellen kann, die Ausführung zielt primär darauf ab, auch dem Laien (so gut es geht) zu verdeutlichen, was damals, an jenem 2. Februar 1990, tatsächlich geschehen ist. In diesem Beispiel geht es um eine "normale" Hauptstrecke, welche mittels klassischer Kombination von Vor- und Hauptsignal abgesichert ist. Als Triebfahrzeug dient der ET 420, unabhängig welcher Bauserie, denn egal wieviele Bremshundertstel die Züge haben, sie fahren alle in der oberen Zugart.

Zeigt das Hauptsignal halt, so sind alle drei Indusi-Magnete wirksam. Der Lokführer wird durch das Vr0-zeigende Vorsignal darauf aufmerksam gemacht, den Bremsvorgang einzuleiten. Das Vorsignal hat einen "scharfen" 1000 Hz-Magneten, dies bedeutet: Bei Vorbeifahrt an diesem Signal muss der Lokführer die Wachsamkeitstaste bedienen und innerhalb von 20 Sekunden auf unter 95 km/h abbremsen (wegen Messtoleranzen wird empfohlen, die Prüfgeschwindigkeit jeweils um 5 km/h zu unterfahren, in diesem Fall wären dies 90 km/h). Unterbleibt die Bedienung der Wachsamkeitstaste oder wird die Prüfgeschwindigkeit in der vorgegebenen Zeit nicht unterschritten, so wird der Zug sofort zwangsgebremst.

Optisch wird die Beeinflussung dem Lokführer durch eine gelbe Lampe angezeigt, die solange leuchtet, bis die 20 Sekunden und damit die "Wirkung" der 1000 Hz-Beeinflussung verschwindet. Sobald die Lampe ausgeht, müssen die 90 km/h erreicht sein. Hier kommen wir nun zu dem großen Manko der I60, welches entscheidend zum Unglück von Rüsselsheim beitrug: Nach Ablauf der vorgegebenen Zeit ist der Zug ohne Beeinflussung, dass heißt der Lokführer kann danach frei nach Belieben die Geschwindigkeit erhöhen, ohne das etwas geschieht.

Um einerseits die "Hemmschwelle" zu erhöhen und zum anderen den Zug "kontrollierter" abbremsen zu können, liegen zwischen Haupt- und Vorsignal (im Regelfall zwischen 150 bis 250 Meter) sogenannte "500 Hz-Magnete". Sie überwachen punktförmig die momentan gefahrene Geschwindigkeit und Lösen bei Überschreiten der zulässigen Prüfgeschwindigkeit eine Zwangsbremsung aus. Im unserem Beispiel wären es 65 km/h (d.h. fährt der Zug schneller als 60 bis 65 km/h, so wird er zwangsgebremst).

Alles schön und gut, aber auch hier haben wir ein Problem:

Da die 500 Hz-Beeinflussung (welche bei der I60 übrigens optisch nicht angezeigt wird) nur punktförmig prüft, kann auch hier der Triebfahrzeugführer nach Passieren des Magneten unzulässig beschleunigen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Zug beim Anfahren (z.B. nach Halt an einem Bahnsteig zum Fahrgastwechsel) die Prüfgeschwindigkeit unterschreitet und hinter dem "500er" so schnell wird, dass er im Falle einer Zwangsbremsung nicht mehr innerhalb des vorgesehenen Schutzweges zum Halten kommt. Um auch bei schlechten Schienenverhältnissen (z.B. Herbstlaub mit Nieselregen) beim Durchrutschen am Hauptsignal keine anderen Züge zu gefährden, werden hinter jedem Hauptsignal einige Meter Schutzstrecke vorgehalten (sogenannte "Durchrutschwege").

Diese machen allerdings nur dann Sinn, wenn Züge eine 2000 Hz-Beeinflussung erhalten, die mit einer Geschwindigkeit fahren, welche auf die vorgesehenen Durchrutschwege abgestimmt sind. Im Falle von Rüsselsheim hatte der 420 nach Frankfurt soviel Geschwindigkeit aufgenommen, dass ein sicheres Abbremsen innerhalb des Durchrutschweges unmöglich war. Vor diesem Hintergrund wurde die I60 kontinuierlich weiterentwickelt. Erstes Ergebnis war die Weiterentwicklung I60R, bei der die Beeinflussung auch wegabhängig erfolgte.

Bei einer 1000 Hz-Beeinflussung musste man zwar die gleiche Handlung wie bei der Vorgängerin I60 tätigen, jedoch bestand hier der Unterschied darin, dass nach Beginn der Beeinflussung eine feste Wegstrecke (700 Meter) eine unzulässige Erhöhung der Geschwindigkeit verhinderte.

Das Gleiche gilt für die 500 Hz-Beeinflussung, wobei hierzu angemerkt werden sollte, dass nach erfolgter Beeinflussung (mit gleicher Eingangsprüfgeschwindigkeit wie bei der I60) eine neue "Prüfkurve" gestartet wurde, sprich, die Geschwindigkeit muss innerhalb einer Toleranz-Wegstrecke auf unter 45 km/h ermäßigt werden. Mit diesen entscheidenden Neuerungen wurde es u.a. möglich, Züge, die schneller als 140 km/h fahren, ohne Beimann zu besetzen.

Die PZB 90 ist die neueste Entwicklung auf Basis der I60R. Wesentlichste Neuerung ist die sogenannte "restriktive" Überwachung.

Kommt der Zug innerhalb einer wirksamen 1000 Hz- oder 500 Hz-Beeinflussung zum Halten, so wird die jeweilige Prüfgeschwindigkeit abgesenkt (1000 Hz: Von unter 95 (heute 85) auf unter 45 km/h, 500 Hz: von unter 45 auf unter 25 km/h). Darüber hinaus gibt es bei der PZB 90 weitere kleine "Gemeinheiten", sie aufzuzählen, würde aber den Rahmen sprengen. Ich hoffe, dass ich halbwegs verständlich die Veränderungen gegenüber der alten I60 aufzeigen konnte.

Nicht zu vergessen: Schon 1972 gab es in Olching einen ähnlichen Vorfall mit der I60 und dem 420: 420 121 fuhr bei diesem Unfall auf einen davorstehenden Güterzug auf.

Das Fahrzeug bekam zwar aufgrund des Hp0-zeigenden Ausfahrsignals eine 1000 Hz-Beeinflussung, jedoch sorgte eine kurz danach folgende Fahrzeugstörung am Bahnsteig dafür, dass der Triebfahrzeugführer nach Behebung der Ursache praktisch "reflexartig" gegen das haltzeigende Signal anfuhr. "Begünstigt" wurde das Unglück (wie in Rüsselsheim) durch den weiten Abstand zwischen Bahnsteigende und Signal.

Nach meinem Kenntnisstand gab es an dieser Stelle (noch) keinen 500er. Mit etwa 110 km/h soll die S-Bahn am Signal durchgerauscht sein, dass der Durchrutschweg da nicht mehr ausreichte, ist eine Binsenweisheit... Im Gegensatz zum späteren S-Bahn-Unglück von Rüsselsheim verlief dieser Unfall relativ glimpflich (der Zug war schwach besetzt, der Tf soll seine Fahrgäste vor dem Zusammenprall sogar gewarnt haben), einige leicht verletzte Personen waren zu beklagen.

Übrigens: Der vierte Triebzug des Unglücks, der unbeschädigt wieder in den Einsatz kam, war der 420 275.

Rüsselsheim 1990 - der persönliche Aspekt

Meine persönliche Meinung: Mir graut es noch heute bei diesen Bildern.

Man darf nicht vergessen, dass die S14 meine "Hauslinie" war (das, was heute S8 und S9 ist), und es jederzeit auch jemanden aus meiner Familie hätte treffen können. Gerade weil die S-Bahn ein Verkehrsmittel für ALLE Menschen ist (weshalb ich es persönlich unsinnig finde, bei dieser Zuggattung eine 1. Klasse in manchen Netzen vorzuhalten...), kann ich mich sehr gut in die Opfer hineinversetzen.

Bis heute streifen meine Gedanken diesen tragischen Anlass, wenn ich in einem 420 sitze, der in Rüsselsheim hält. Ich wünsche allen Hinterbliebenen und Überlebenden für ihren weiteren Lebensabschnitt alles Gute!

Christian Stanski





» nach oben